Martin Strauss

Martin Strauss, 1959 in Düsseldorf geboren, gelernter Schriftsetzer. Veröffentlichung von Prosa und Lyrik in diversen Literaturzeitschriften und Anthologien (z.B. Jahrbuch der Lyrik, Podium, Torso u.a.). Buchveröffentlichung: „Ein Blinder im Lichtspielhaus“, Edition Kirchof & Franke, Leipzig 2002.

2. Förderpreis für Lyrik, Bayreuth 1992, Irseer Pegasus 2008.

Laudatio

Ilse Kilic für die Jury des Feldkircher Lyrikpreises 2008

Es gibt Gedichte, die sich schmal machen. Gedichte, die sich gerade deswegen ganz wunderbar entfalten, sobald Leser oder Leserin ihnen Platz geben, ihnen Zeit widmen, Zeit. Zu diesen Gedichten gehören jene von Martin Strauß. Sie verwenden keine großen Worte und überlassen es uns, als Lesende, unsere eigenen Erfahrungen, unsere eigenen Bilder zu entwickeln, laden uns gewissermaßen ein, zwischen die Zeilen, zwischen die Worte zu treten und von dort aus einen Blick auf die Welt innerhalb und außerhalb des Gedichts zu werfen. Was sehen wir? Freibäder und Autobahnen, einen Zwetschkenbaum, die "Vorarlberg", Menschen, die wir erkennen, weil wir sie kennen. Oder doch nicht? Vielleicht könnte ich auch sagen, diese Gedichte sind hilfreich, indem sie Platz schaffen, Platz für Erinnerungen, denen sie auf die Sprünge helfen und Worte anbieten, sparsam und zurückhaltend, damit die Erinnerungen nicht erschrecken und sich davon machen. Oder ich beschreibe die Gedichte so:

es sind Worte, die vor dem Vergessen beschützen, ein Fenster öffnen, die Zeit kurz anhalten, Gedichte, die sich den Details widmen, den oft scheinbaren Selbstverständlichkeiten und Kleinigkeiten des Lebens. So stellt sich die Frage nach Erinnern und Vergessen, nach klein und groß, nach wichtig und unwichtig neu und immer wieder neu. Diese Frage ist wichtig. Diese Gedichte sind wichtig.

Gedichte

Aufgelassene Station

den Reisenden gegeben
vom Zeh zur Ferse gewippt
und wieder zurück/in Bälde
trennt eine leichte Jacke
den August vom September

was einmal Katze war
heißt nun Balg/ein Radgeripp
erläßt das woher und wohin
die Tauben im Uhrengehäus’
zergurren die längste Stunde

 

 

 

einige freibadsätze

säugetierfreude

verdunstende fußspur der turmspringer

einmeterbrettmut

gedachter schnee:
der bademeister verschwämme zugleich

caracalla im kioskschatten

das geschrei aushorchen
hin und wieder ein namensgleicher ruf

umwälzter nachmittag

unter die wasserhaut schlüpfen

gewitterwarnung:
libellen hochzeiten in die abwesenheit

eingewelkte bilanz aller sonnenstunden

nicht schwimmen können
wie ging das eigentlich
und wen wollte man fragen?

 

 

 

Lindau/Hotel Bayerischer Hof

eben wendet die “Vorarlberg”
                        (ein hübsches Zitat von Schiff)

die Berge treten zurück
        graue Stare äugen sich fest im Sucher

                                          nach dem Ufer
                                fast hätt’ man’s vergessen
                            beginnt erst das Vorland

(milde Revision der gedachten Entfernung
verblüffend und kurzweilig, die ersten Häuser am Platze
wissen damit zu leben)

das einem ist
als habe man alle Leute schon mal gesehen
bleibt Sache des Gastes

und der Rumpf der “Vorarlberg”
bleibt zurück als Schemen geglätteten Wassers

dabei ist das Schiff längst volle Musik voraus
auf dem offenen See

 

 

 

Robinsonade im Rapsfeld

Soweit das Auge reicht

und keine Nähe in Sicht
außer Gelb in Gelb

Gleichton der Bienen

hin und wieder ein Bläuling
der im Schönwetter aufgeht

Inmitten der Blüte

ein Zwetschgenbaum
der nun alles bedeutet

 

 

 

stauauflösung

das kann dauern

so sagt man doch
im hinblick auf
räumfahrzeuge
polizei
notarzt

wie das leise ausgellt

in den winzigen gehirnen der waldlerchen
müßte verwirrung herrschen
aber man hört sie singen
inmitten der unfallbedingten stille

noch kaffee
die sandwichs
liegen in der kühlbox
vorsicht mit der schokolade

mit schwung über die leitplanke
beine vertreten, wasser abschlagen
die eireste wegschnippen

hundertfaches anlassen
endlich, endlich, ja wirklich:
aus dem Augenwinkel
fällt ein zerknüllter fiat