Sibylla Vričić Hausmann

Sibylla Vričić Hausmann, geb. 1979 in Wolfsburg, lebt als Autorin und Online-Texterin in Leipzig. Studierte Literaturwissenschaften, Linguistik und Philosophie in Münster und Berlin. Sie arbeitete von 2009 bis 2011 als Robert Bosch Kulturmanagerin in Mostar (Bosnien und Herzegowina), wo sie bis Oktober 2012 lebte. Ein Schwerpunkt ihres poetischen Schaffens ist das Thema „Verortungen“, dem sie sich, zusammen mit Eva Brunner, auch in ihrem literarischen Weblog „Liebe Ella“ widmet (http://liebeella.blogspot.de). Sie veröffentlichte Gedichte und wissenschaftliche Beiträge zur Lyrik des 20. Jahrhunderts in Zeitschriften und Anthologien sowie im Internet, u.a. in: „Dulzinea“ (2009), den „Weimarer Beiträgen“ (2009) und der Anthologie zum Poesiefestival „Polip“ in Priština (2011). Außerdem brachte sie 2011 eine eigenständige Publikation zu zeitgenössischer Kunst und Literatur in Bosnien und Herzegowina heraus .

Einzelveröffentlichung

Invent|tura. Zeitgenössische Kunst und Literatur aus Bosnien und Herzegowina, hrsg. mit Karin Rolle 2011.

Aufsätze

Vergangenheit und Gegenwart „im Buch und Bilde“. Zeitstrukturen und Bildbezüge in „Das Preußische Wappenbuch“ von Gertrud Kolmar. In: Sand in den Schuhen Kommender. Gertrud Kolmars Werk im Dialog, hrsg. v. Chryssoula Kambas u. Marion Brandt, Wallstein Verlag 2012, S.239-249.

Ein „Kosmos im Backofen“. Zum Motiv des Essens in der zeitgenössischen Lyrik. In: Weimarer Beiträge 4/09, Passagen Verlag 2009, S. 557-578.

Gedichtveröffentlichungen

In: Polip. This place is our zoological garden now, hrsg. von Lucia Zimmermann. Qendra Multimedia 2011, S. 93-101.

http://liebeella.blogspot.de

In: Dulzinea 13. Zeitschrift für Lyrik und Bild 2009.

Laudatio

Elisabeth Steinkellner für die Jury des Feldkircher Lyrikpreises 2013

Sibylla Vričić Hausmann gelingt es in ihren Gedichten, konkrete politische und gesellschaftliche Realitäten der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit in dichten und atmosphärischen Bildern einzufangen. Ohne ein moralisches Urteil zu fällen oder eine (politische) Position zu beziehen,   schreibt sie über den Bosnien-Krieg und seine facettenreichen Nach- und Auswirkungen und findet diese auch dort, wo man sie nicht sofort vermuten würde: im Zug von Mostar nach Banja Luka zum Beispiel, auf TV Bosnien oder in einem unbewohnten, verwachsenen alten Haus. Der „kalte Bosnien-Krieg“, der sich nicht anders fassen lässt, als in einem individuellen Versuch – so tun es „Radenkos Bilder: vierundzwanzigmal Stiefel gegen Gesicht“ und so tut es auch die prosaische Lyrik von Sibylla Vričić Hausmann.

Immer wieder nimmt die Autorin in ihren Gedichten Bezug auf die Themenstellung satt liegt deine hand in der wölbung meines rückens:  Hände „ergreifen ... die Wölbung eines Rückens“ oder „halten ... in der Rückenkuhle aus“, sind dabei jedoch nicht individuelle Geste von Zärtlichkeit, sondern vielmehr Gestus von Macht, Gewalt und patriarchaler Männlichkeit – denn „in die Haut der Jungs ist eine harte Kindheit tätowiert“ und die Hände, die noch in der Rückenkuhle aushalten, werden bald schon „runterrutschen“. Satt sind „die Herren die das Sagen haben“ und in Form einer aggressiven Sexualität wird der „Hunger der frühen Entbehrung“ gestillt.

Machtgefälle, Gewalt und Erinnerungen an den Krieg bleiben meist nur angedeutet, werden zuweilen sogar leicht ironisiert oder bewusst beiläufig erwähnt, gerade um den Blick darauf zu lenken. Denn „eigentlich ist nichts zu sehen“, auch die Wasserflecken in dem „vom schwedischen Volk gespendeten Waggon der gehobenen Klasse ... störten niemanden hier“ und der Tod, den eine alte Frau „sieben Tage nach der Vertreibung starb“ war ein natürlicher.

Die Autorin schafft es, mit ihrer Lyrik dem „natürlichen Vorgang des Graswachsens ein Schnippchen zu schlagen“ und einen Blick auf ein Land und einen Krieg zu werfen, der vielfach schon in Vergessenheit geraten ist. Dabei gleitet sie nicht in Resignation ab, sondern lässt immer auch das Leben nach dem Krieg spürbar werden: „das Mitbringsel in meiner Hand ist überreif und süß/ganz vorsichtig halte ich es fest als würde es atmen“

Während auf der einen Seite die Drastik von Motiven wie Krieg und (patriarchaler) Gewalt steht, schimmert auf der anderen Seite immer eine leise Zärtlichkeit durch – zu einem Menschen, einem „du“, vielleicht aber auch zu einem Land, einer Kultur, einer Gesellschaft, mit ihrer Gegenwart und Geschichte und allem, was sie ausmacht: „ich möchte/alles über dich wissen und verstehe nicht viel erfasse nur/deine Stimmung mit dem feinen Sensor frisch Verliebter“.

Wir gratulieren Sibylla Vričić Hausmann herzlich zum 2. Preis!

Gedichte

Balkan-Nächte

in manchen Nächten lassen sich die Mädchen von den Jungen
zu Boden drücken in ihre Cardigans verstrickt sich Gras
in die Haut der Jungs ist eine harte Kindheit tätowiert
sie wären gern Matrosen oder Soldaten: männlich einsam
voller Liebe zu den Müttern und Verachtung der Väter
doch während der Mond sich buttergelb und verfressen
hinter den Berggipfeln hervorschleppt ergreifen sie
stattdessen die Wölbung eines Rückens und stillen
auf diese Art den Hunger der frühen Entbehrung

TV Bosnien

Orient-Klänge gehen in die Beine
in runde Pos in Miniröcken

und die Hände
der satten Herren die das Sagen haben

schon damals auf den Schenkeln lagen
und den lieben Schießgewehren

halten noch ein kleines Weilchen
in der Rückenkuhle aus

bevor sie runterrutschen

Baklava-Mantra

nur meine Füße waren kälter als ich im Nachtzug fuhr
von Mostar Richtung Banja Luka kälter als der kalte Bosnien-
Krieg die Entitätengrenze die Klimagrenze die Schneeflocken
die in den Bergen fielen wie kleine Geister vor die Fenster schwebten
sie schauten rein in mein Abteil sahen mich auf  blauem Plüsch
kauern in diesem vom schwedischen Volk gespendeten Waggon
der gehobenen Klasse (der ein schönes Geschenk war: skandinavisch
rein und luftig und die wenigen Wasserflecken oder losen Ecken
in der Holzvertäfelung störten niemanden hier) du warst nicht bei mir
nur meine Füße waren weiter weg als mein Gepäck oder die EU oder
der Mond der staubige Himmelskörper – als du mein Baklava
mein Palatschinken mein Feigenstrudel meine Amerikanische Torte
ich würde dich küssen ...

Bijeljina

sieben Tage nach der Vertreibung starb deine Oma
eines natürlichen Todes. natürlich auch die Sträucher
die die Reste ihres Hauses überdecken hohes Gras und
Brombeerbüsche und eine Trauerweide wo der Brunnen war
eigentlich ist nichts zu sehen. ein schmaler Weg durch die Felder
eine Bauernidylle in der wir spazieren Hand in Hand ich möchte
alles über dich wissen und verstehe nicht viel erfasse nur
deine Stimmung mit dem feinen Sensor frisch Verliebter
und sehe Nachbarn Tiere den Doppeladler über den Gärten
die leergeschabte Tafel deiner Kindersommer und denke
an Radenkos Bilder: vierundzwanzigmal Stiefel gegen Gesicht
ein Versuch dem natürlichen Vorgang des Graswachsens
ein Schnippchen zu schlagen. wir pflücken schwarze Beeren
ins kleine Folientäschchen einer Zigarettenpackung
später sitzen wir wie fiebrig im Bus ohne Klimatisierung
das Mitbringsel in meiner Hand ist überreif und süß
ganz vorsichtig halt ich es fest als würde es atmen