Susanne Eules lebt als Autorin und Übersetzerin in Deland, Florida, USA. Zahlreiche Veröffentlichungen in deutschsprachigen und amerikanischen Literaturzeitschriften, u.a. zuletzt 2015 in: Prolog X4, Heft für Zeichnung und Text, Berlin; Coldfront Magazine (online), New York; Glossen 40, Dickinson College, Carlisle, PA, und wespennest, zeitschrift für brauchbare texte und bilder 164 Wien, 2013. Ihr Lyrikband ůbern růckn des atlantiks/den rand des nachmittags erschien 2012 bei fixpoetry, Hamburg. Grand Narrative Of A Field Trip wird im Herbst in FENCE Magazine, University of Albany & New York State Writers Institute und Auszüge aus dem satirischen Emailroman w:orten der Protagonistin Sophia Füchsin alias Christiana von Goethe geb. Vulpius werden Ende des Jahres 2015 in LICHTUNGEN 144, Zeitschrift für Literatur, Kunst und Zeitkritik, Graz erscheinen.
TEXT???
Laudatio
Julietta Fix und Axel Görlach für die Jury des Feldkircher Lyrikpreises 2015
Als ich dieses Gedicht zum ersten Mal las, fast wäre es mir durch die Lappen gegangen, weil es sich verschämt hinter das Blatt eines anderen Autors geklemmt hatte, versuchte ich sofort mir vorzustellen, wie es wohl entstanden war. In meiner Fantasie sah ich eine Autorin oder einen Autor in Vilnius in einer Bibliothek sitzen, vielleicht eine Stipendiatin, die an einem bestimmten Projekt forscht und mehr oder weniger zufällig auf die Geschichte von Kazimierz Sakowicz stößt. Eine Autorin, die bewegt und fasziniert von der Geschichte, einen lyrischen Ansatz sucht, diese zu Papier zu bringen.
Susanne Eules Text setzt sich mit den Aufzeichnungen von Kazimierz Sakowicz auseinander, eines polnischen Journalisten, der in Ponar lebte. In dieser in einem Wald verstreuten Ansiedlung nahe der Stadt Wilna beobachtete und dokumentierte Sakowicz in den Jahren 1941 bis 1943 aus seinem Versteck auf dem Dachboden die Massenerschießungen an litauischen Juden. Die dabei entstandenen tagebuchartigen, geheimen Notizen versteckte er aus Angst vor Entdeckung in Limonadenflaschen, die er im Wald von Ponar vergrub. Nach deren Auffinden lagerten die Notizen mit dem Stempel ‚unleserlich‘ versehen lange Zeit im Litauischen Staatsarchiv.
Rachel Margolis, die im Wilnaer Ghetto Mitglied der Widerstandsorganisation F.P.O. und Mitarbeiterin in der Ghettobibliothek war, entzifferte in den 90er Jahren die in Heften, auf Zetteln und Kalenderblättern festgehaltenen Aufzeichnungen von Kazimierz Sakowicz. 1999 wurden sie schließlich in Polen und 2003 in Deutschland veröffentlicht.
Sakowicz‘ Notizen, die überwiegend sachlich und distanziert bis ins Detail die Mordmaschinerie beschreiben, sind immer wieder durchsetzt von Bemerkungen zum Himmel, zum Wetter, zur Normalität dieser an sich idyllischen Landschaft und lassen eine unausgesprochene Traumatisierung erahnen, der Susanne Eules mit ihrem Gedicht Doina de Jale Sprache und Stimme gibt.
Doina de Jale ist ein Gedicht, das sich auf den Ursprung der Lyrik besinnt, auf die zum Spiel der Lyra gehörende Dichtung. Die Geschichte von Kazimierz Sakowicz war der Auftrag an die Autorin, die diese gleich den Klezmorim, die ehemals als Auftragsmusiker auf Hochzeiten, Ernte- und Hoffesten spielten, in Lyrik transformiert hat. Wie in den Liedern der Klezmer Musik, eine aus dem aschkenasischen Judentum stammende Volksmusiktradition, wechselt die Stimmung in den einzelnen Strophen zwischen Fröhlichkeit und Trauer, zwischen Dur und Moll. Die vierzehn sechszeiligen Strophen sind Begleittext zu einem imaginären Musikstück für Fiedel und Hackbrett. Begleitet von dem Psalm er, der segnet, wird das Gedicht eröffnet. Es wird deutlich, dass sich Susanne Eules auch im weiteren Verlauf des Textes an den jüdischen Gebeten zum Sabbat orientiert und in Form von Psalmen neben dem Haupttext darauf verweist. Diese Anmerkungen, die die geschichtlichen Umstände des Gedichtes unterstreichen, gestatten dem Text Heterogenität in Bezug auf den Inhalt und die sprachliche Wahrnehmung. Ohne mit der Geschichte des Kazimierz Sakowicz und den Verweisen auf Psalmen und Musik zu konkurrieren, bringt Susanne Eules ihre Sprache in Position; sie singt in klar reflektierten, ästhetischen Sprachsplittern, die das geschichtliche Ereignis in rhythmischen Kaskaden aufbauen. So entsteht ein poetischer Geschichtsspeicher, der das Lied vom Grauen und Leid analysierend, immer wieder Objektivität und Subjektivität verquickend, verdichtet. Susanne Eules bewegt sich mit erstaunlicher Musikalität, changiert zwischen Sachlichkeit und elegisch-poetischen Tönen und komponiert so einen mitreißenden Sog, dem man sich schwer entziehen kann.
Gedichte
doina de jale
54° 38′ N, 25° 12′ O fidl und tsimbl ad lib. |
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elfter juli: ganz schönes wetter in drei offenen fenstern weiße wolken das türglas ein flügel lesübungen windiger zeilen mit einem unbewegten zeiger & dem andren im spitzen win |
[misheberakh]
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kel tritt die zeit auf der stelle in straßencafés nippen kinder an limonadenhalmen in einem der hinterhöfe steigt eine kuh mit angelegten flügeln die glatte wand empor periskope auf klaf |
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fendem bürgersteig zu einem wirren bündel getürmte asphalt bänder aufgeraut glänzend for matiert vor einer einfahrt mit der frage nach beschaffung oder versiegelung durch frühmorgend |
[fremde nign]
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lich geöffnete kanaldeckel unter weltliche schriftzüge hastig ver worfen rätselhaft erstarrt vermut lich übungen noch immer offener wunden stratigraphie sich häu tender epidermis abgetragener insignien bloßer unterwerfung mit durchsicht auf die silber |
[adonoi moloch]
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sichel weiße wolken die überm eingangstor der morgenröte schweben in fremden lettern liegt eine sommerliche lange |
[fremde nign]
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weile überm holprigen pflaster stimmen in verwilderten apfel gärten hinter mauerresten bre chen sich echos der vokieçiu straße ihre schatten fließen die fassaden entlang die stadt |
[adonoi moloch] |
eine übung ein geschlossnes buch keine seite trennbar hier bingo rufen die besatzer faites vos jeux ypatingi buriai hastige schritte hastiges treiben draußen beginnen kazimierz' versteck |
[fremde nign] [adonoi moloch] |
übungen zwei jahre vier monate hastige schriftzüge eingerollt blatt um blatt zurückschnellende äste im augapfel stämme rücken zum spalier auf angewiesenem eingeschlagnen weg der wald eine |
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mern tagen schreien schildern der einsatzkommandolastwagen von spu ren der hunde von schüssen von kreu zender flugbahn der krähen die stän dig über dem graben kreisen auch am fünften juni schüsse schreie im wald |
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das fahrrad am nadelboden die netz haut ohne kammer die lippen ver siegelt von der kante des kalenders stürzt die zeit der wald ein wundrand entlang der gleise schüsse schreie der tunnel ein fliehendes auge schä |
[fremde nign] [adonoi moloch] |
lende borke eines weiteren jahres über den vergrabenen flaschen win diger schatten ein schweigen der wald ganz geädert fremde kammern erstickter schreie übungen weißer wolken über dem grünen laub der erinnerung |
[fremde nign] |