Tobias Pagel, geboren 1981 in Sigmaringen, lebt und arbeitet in Konstanz als Lehrer, seit Wintersemester 2016 auch als Lehrbeauftragter für eine Textwerkstatt Lyrik an der Uni Konstanz. Studierte Germanistik, Geschichte und Sportwissenschaft sowie am Studio für Literatur und Theater in Tübingen. Schreibt vor allem Gedichte sowie Lieder und fotografiert. Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien, zuletzt in „die horen“ (274) und „metamorphosen“ (25). 2017 und 2019 Stipendiat des Förderkreises deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg. 2017 Finalist beim 25. Open Mike in Berlin und beim 20. Leonce und Lena-Preis in Darmstadt, 2019 Finalist beim Irseer Pegasus. 1. Preis beim 18. Feldkircher Lyrikpreises 2020.
Laudatio
Lars Arvid Brischke für die Jury des Feldkircher Lyrikpreises 2020
Der Platz ist begrenzt. Neun Zeilen für jedes der fünf eingesandten Gedichte, im Blocksatz, gesteht sich der Dichter Tobias Pagel zu, wenn er den Ort beschreibt, den Ort schlechthin, von dem gesagt wird: Da muss man hin, um am rechten Platz, um „zuhaus“ zu sein. Die Gedichte sind Lage- und Zustandsbeschreibungen dieses Ortes und des lyrischen Ich, Du oder Wir, die sich darin befinden, die hier „herr der dinge“ sind. Sind sie am Ziel? Wie ist ihr Befinden am „place to be“? Die rechteckigen Gedichte stimmen in Form und Inhalt mit den Feldern überein, die sie bestellen. Sie setzen das ins Bild, bringen es auf den Schirm, auf den Punkt oder Doppelpunkt: Es ist der Planet, der seine Grenzen hat, der einzige Ort für den Menschen mit seinen unkontrollierbaren Phantasien, unbegreiflichen Fähigkeiten und scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten. Die Gedichte werfen ein Blitzlicht auf dieses momentan unauflösliche Spannungsfeld, sind Wimmelbilder des als Anthropozän gelabelten Zeitalters, in dessen Landschaften viel menschengemachte Dynamik sichtbar wird: „in den wachstumsfugen knirschen: vor-orte“, „dislozierte heimatsplitter“, „neue formen von: erosion“. Die Menschen sind stark von den Landschaften geprägt, denen sie selbst ihren Stempel aufgedrückt haben, sie sind „kilometerfresser“, „fleischmaschinen mit herzkasper“, „mäusemelker“ und „einmal durch den wolf gedreht“. Wie es dabei um den Menschen bestellt ist, der all dies wahrnimmt, und wie es ihm ergeht, liest sich hier beunruhigend: „meine anzüge tragen mich, bringen mich zum / verschwinden“, „verschick mich im anhang zwischen baum und borke“, „nur noch haut und knochen und ich: ein strich in der landschaft“. Der Mensch und der Planet stehen sich in den Gedichten Auge in Auge gegenüber und haben momentan miteinander kein Glück, sind miteinander nicht glücklich. Ein Glück, das „die hintertür eintritt“, kann durchaus als Unglück gelesen werden, „ein neues pixelwunder“ rückt den Verlust an Spiritualität erst ins Bewusstsein. Die Gedichte sind Ballungsräume der Seelen- und Nutzlandschaften, die sie beschreiben und sie zeigen die Grenzen auf, die diese Landschaften durch ihre Beschaffenheit dem Menschen setzen. Dem Autor gelingt es in diesen Gedichten auf frappierende Weise, die unendliche Materialfülle der Befunde und Dilemmata unserer größten gegenwärtigen Herausforderungen mit fünf vielsagenden Miniaturen in eine poetische Form zu bringen, die einen auf verschiedenen Ebenen nicht loslässt und die gleichzeitig viele Fenster, Türen, Bildschirme und Räume öffnet für ein neugieriges Vorwärtstasten auf unbekanntem Terrain, vielleicht in Richtung eines utopischen „place to be“. Wohin uns das führen kann, lässt er offen, denn der Phantasie sind zum Glück keine Grenzen gesetzt. Drei von vier Jurymitglieder haben die Einsendung von Tobias Pagel unabhängig voneinander aus der Vielzahl der Einsendungen ausgewählt und als 1. Preisträger für den Feldkircher Lyrikpreis 2020 vorgeschlagen. Das sagt viel über den intensiven Eindruck aus, den diese Gedichte hinterlassen. Herzlichen Glückwunsch zu diesem gelungenen Werk!
Video
Gedichte
du siehst den ort. the place to be. die partitionen.
planquadrate, parallelen. du siehst: den stauraum,
komprimiertes. den überlandverkehr: autopiloten,
kilometerfresser, leichtflüchtige elemente. unter tage:
sedimente, seltene erden, schichtwechsel. die eltern meiner
eltern meiner. du siehst: im niemandsland: flurbereinigte
landschaftsreserven, fragen der nachverdichtung, spaltmaße. in
den wachstumsfugen knirschen: vor-orte, kapital anlagen,
dislozierte heimatsplitter. du siehst: die knotenpunkte streuen
schon: nester aus licht. neue formen von: erosion.
wir sind herr der dinge. ballungsräume. fleischmaschinen mit
herzkasper. ich bin das andere ende der wurst. keine runde
sache. meine anzüge tragen mich. bringen mich zum
verschwinden. der rest träumt davon, ein anderer zu sein.
heute bin ich mäusemelker, morgen einmal durch den wolf
gedreht. wenn ich mir ins eigene fleisch schneide. wo laus und
leber hausen. am kapitalfluss zähle ich die konjunkturdellen, wo
der dax gute nacht sagt. denke: out of the box. kaufe engere
gürtel. nur noch haut und knochen und ich: ein strich in der
landschaft.
ich bezahl mit meinem gesicht. bestell ein feld online. beacker
sechs aus sieben im quadrat. im anthropozän der bauer.
träume von schmelzenden polen, begossenen pudeln. ich mach
meine kreuze in die felder. der vergiftete bauer setzt seine
wiesen in brand. ich spinn mir ein tierchen aus flüchtigen
wörtern, verschick mich im anhang zwischen baum und borke,
ein bankgeheimnis auf der lauer. vor troja oder darmstadt, im
digital rain, nur einen klick entfernt, bis das glück die hintertür
eintritt, bis meine zahlen kommen, hallelujah: ein neues
pixelwunder.
was trägst du da in deinem brustkorb spazieren? eine gute
frage, fragile landschaft. wir zählen eins und eins zusammen,
nehmen uns ins gebet. verbrieft ist die faszination fremder
zungen, spaltbares material. deine lippen sind begehbare
auslagen, mein mund ein offenes geheimnis. eins ergibt das
andere. deine pupillen: ich-kreise, singularitäten. deine haut ist
ein positionspapier, deine zunge: eine warteschlange. bis wir
die falsche antwort sind, uns abziehen, wunde rachen. bis
weniger bleibt als die summe unserer teile, gespinste aus luft.
wach, mein zuhaus. nimm mich auf, beschatte mich. es mangelt
mir an: nichts. du bist die hilfe, die mir entspricht. es wird licht.
besorgs mir. weide mich auf grünen auen, lieferheld. das
elektrisches haustier im parterre, ein fleißiges lieschen. verdau
summend meine haut. partikel. ich hebe meine augen auf zum
bildschirm: und ich sehe, dass es gut ist. spieglein, spieglein.
imitier mir den regen. leg feuer im display. denn in dir lebe,
webe und bin ich, mein zuhaus, braver leviathan. in deine
hände empfehle ich meinen geist, mein passwort: du hast mich
erlöst.