Ulrike Ulrich,  Foto: Ute Schendel

Ulrike Ulrich studierte in Münster Germanistik, Kunstgeschichte und Kommunikationswissenschaft. Danach arbeitete sie in Bochum im Bereich Computerlinguistik. 1999 zog sie nach Wien und arbeitete bei der Schule für Dichtung. Ulrich schreibt Prosa, Lyrik, Drehbücher, Kolumnen, Hörspiel und ist als Herausgeberin von Anthologien tätig. Seit 2002 lebt Ulrike Ulrich in der Schweiz. Ulrich ist Mitglied des Schriftstellerverbandes Autorinnen und Autoren der Schweiz, des Deutschschweizer PEN-Zentrums, der österreichischen IG Autorinnen Autoren, im Poetenladen und bei der Zürcher Literaturgruppe index (Wort und Wirkung).

2020 erschien Ulrichs kaleidoskopischer Zürich-Roman Während wir feiern, der das Selbstbild und das Fremdbild der Schweiz skizziert. (Quelle: WIkipedia)

Laudatio

Ulrike Ulrich - In  gekonnter Verbindung von überkommenen Redewendungen zu neuen Bedeutungen treibt Ulrike Ulrich ein raffiniertes und dichtes Spiel mit Syntax, Gleichklängen und Mehrdeutigkeit. So wird beispielsweise durch die Variation von Vorsilben in Verbindung mit Zeilensprüngen, durch Wiederholung und Wiederaufgreifen zusätzliche ästhetische Spannung aufgebaut. Die Nähe zum Prosaischen an manchen Stellen ist poetisches Kalkül, zumal in allen Passagen Rhythmus und Musikalität steckt: Der Beat, der Hip-Hop, das Sampling, die Sprache der Straße, des Protests und des Aufbruchs. Slam Poetry vom Feinsten!

Gedichte

AN IHRER STELLE

an ihrer stelle
will sie nicht mehr bleiben.
an seiner stelle
sieht sie ungeheuer.
die hat sie selber angeheuert,
um nicht mit ihm allein zu sein.
an ihrer stelle
bleibt ihr nichts mehr übrig
von sich.
sie gibt sich aus
für eine andere,
sie gibt sich auf und ab,
verausgabt sich ins ungefähre.
sie schaut vorbei
und trifft sich nicht mehr an.
so reißt sie aus
und alles ein
und läuft ihm fort,
so weit so gut
er sehen kann.
sie findet sich nicht mehr zurecht
geliebt,
da kann er lieben, wie er will.
sie findet sich zurecht gewiesen
aus dem garten
und wartet also draußen vor dem tor,
dass er sie einlässt
und auch sich
auf sie
und ihre dünne haut,
in der an ihrer stelle sie nicht stecken will.
da sitzt sie, legt sich karten,
lehnt sich ab
und zu an eine hoffnung an
und hält es halt nicht aus an seiner seite
sie selbst zu sein.
an ihrer stelle.

.,- MONDGEDICHT

und auch
im zunehmen
noch nicht
begriffen
sich selbst den hof
zum schein
so regelmaß
so oft
und unbeschrieben
zifferblatt
trabant an stadt.

WIR

und ist das wir von sich aus gegen andere?
und ist das wir so kohärent? wer sind denn wir?
sind denn nicht wir die andren für die andren?
für irgendwen sind wir doch alle wir?
wir zwei. wir name, schule ort. wir gegend.
wir studium. wir lebensalter.
wir bildungsgrad, wir klüger, schöner, reflektierter.
wir waren’s nicht. wir haben ihn ja nicht gewählt.
wir reisen anders und wir stehen bei der hymne
auch nicht auf.
wir lesen nicht die kronenzeitung.
wir kleben niemandem die münder zu.
wir unterschreiben manchmal irgendwelche listen
wir arbeiten für wenig geld für die kultur.
wir sind ganz autonom und meistens individuell.
wir wissen ganz genau um die verblödung.
wir sehen selten fern und niemals weg.
wir treffen uns bei lesungen und vernissagen.
und fürchten uns für die nation, die wir nicht sind.
wir haben angst vor uns, die wir nicht sind.
was denkt man jetzt von uns, die wir nicht sind, im ausland?
wer sind denn wir? auf jeden fall nicht wieder wer.
wir waren niemals wer, das macht es uns auch leichter.
und sind doch besser als die meisten.
wer sind denn unsre väter mütter, länder sprachen?
und warum sind wir nie genug, die wir nicht sind?

DISSIDENTENORGANE, CHINESISCH*

die nachricht auf seite 3 unten
geht an die nieren.
kandidieren die doch schon jahre
für ihren tod.
schleichendes zellabsterben,
immer auf abruf,
karteileichen,
bis auf weiteres unexekutiert,
bis dann endlich mal einer herz oder lunge bestellt,
innere angelegenheiten,
keinesfalls universell,
garantiert frisch geschlachtet,
bedarfsweise,
wir danken dem edlen spender,
ausgewiesenermaßen recht staatlich.

*in china werden todesurteile abhängig vom
bedarf an spenderorganen vollstreckt.

AUFBRUCH

sie bricht schon lange auf.
packt ihren mut zusammen und das nötigste.
macht listen, was sie nicht vergessen darf.
gibt ausgeliehene bücher zurück,
lässt am fahrkartenschalter
in der schlange einen nach dem anderen vor.
vergewissert sich, dass die gleise noch dortliegen.
beobachtet menschen, die wegfahren.
abends, wenn die fernzüge die nacht durchmachen,
schaut sie unverhohlen in die liegewagenabteile.
sie schaut sich die gesichter der alleinreisenden an,
die viel gepäck haben.
sucht nach entschlossenheit und verzweiflung.
sie geht auf den bahnhof und sucht nach
verwandten zügen.
wenn sie zurückkommt, fragt er sie nicht, wo sie war.